630. Jesus, der Jude, Messias und Herr
Mittwoch, 16. Mai 2018 | Autor: intern
Jerusalem
Lieber Blogbesucher,
viele Christen missachten das Alte Testament und haben dadurch große Defizite zur Person Jesus. Als ich den Artikel in der Zeitschrift Christen an der Seite Israels gefunden habe, habe ich mich sofort bemüht hierzu eine Genehmigung zur Veröffentlichung auf dieser Seite zu bekommen.
Ich danke den Autor Tobias Krämer sehr herzlich für diese Genehmigung und kann Ihnen den nachfolgenden Artikel sehr empfehlen.
Ultra-orthodoxe Juden in der Torat Emet-Jeschiwa in Jerusalem. Eine Jeschiwa (Mehrzahl: Jeschiwot) ist eine jüdische Hochschule,
an der sich die Schüler dem Tora-Studium, besonders dem Talmud-Studium widmen. Foto: Yonatan Sindel/Flash90
Jesus, der Jude, Messias und Herr
„Gottes Sohn wurde nicht Fleisch, Mensch […] in irgendeiner Allgemeinheit, sondern jüdisches Fleisch. Die ganze kirchliche Inkarnations- und Versöhnungslehre wurde abstrakt, billig, bedeutungslos in dem Maß, als man das für eine beiläufige und zufällige Bestimmung zu halten begann.“ (Karl Barth) (1)
Jesus war und ist Jude. Nach dem großen Theologen Karl Barth ist das keine Nebensächlichkeit. Karl Barth hat hier offenbar etwas begriffen, was sich vielen Christen entzieht: Dass das Heil vom Judesein Jesu abhängt. Eine gewaltige und gewagte Aussage! Im folgenden Beitrag wird versucht, diese Wahrheit zu entschlüsseln und zugänglich zu machen. Dabei wird sich herausstellen, dass man an Jesus tatsächlich nur glauben kann, wenn man ihn durch die jüdische Brille sieht. Christlicher Glaube ist ohne Judentum nicht möglich, denn der christliche Glaube ist von seiner Substanz her jüdisch.
Einführung: Jesus aus der Sicht seiner Zeitgenossen (2)
Jesus wuchs als Junge in einem frommen, jüdischen Elternhaus auf. Er wurde am achten Tag beschnitten, so dass er unter der Tora war, mit der Tora erzogen wurde und von Anfang an mit Gottes Willen vertraut gemacht wurde. Auf diese Weise wuchs er unter dem Schutz der Tora heran. Vermutlich erhielt Jesus Tora- Unterricht, möglicherweise in einer Tora-Schule in einer Synagoge in Nazareth. Auf diese Weise wurde er mit dem Tanach bekannt, der jüdischen Bibel (= Altes Testament), was erklärt, dass er zielsicher bestimmte Passagen finden konnte (Lk 4,16-21). Als Jugendlicher wurde bei Jesus bereits ein besonderer Draht zu Gott sichtbar, doch blieb er zunächst bei seinen Eltern, ordnete sich ihnen unter und nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen (Lk 2,41-52). Das Neue Testament lässt keinen Zweifel daran, dass Jesu Umfeld ihn als einen der Ihren gesehen hat, wenngleich viele auch wahrnahmen, dass Jesus in einem besonderen Verhältnis zu Gott stand (Mk 6,1-3).
Als Jesus später eigenständig wurde, bewegte er sich frei im damaligen jüdischen Umfeld. Sein innerster Antrieb war es, dass durch ihn Gott zum Zuge kommen sollte. Dies hat Gott auf herausragende Weise bestätigt, indem überall, wo Jesus diente, die Herrschaft Gottes durchbrach: Menschen wurden zurechtgebracht und fanden wieder den Weg ins Leben, viele wurden geheilt und von dunklen Mächten befreit, manche wurden sogar von den Toten auferweckt. Das hatte es in der Weise in Israel zuvor nicht gegeben. Zugleich wurde deutlich, dass Jesus ein begnadeter Lehrer und Hirte war. Wer Jesus begegnete, der begegnete in einer überraschenden Unmittelbarkeit Gott selbst und seiner Liebe. In Jesus wurde Gott sichtbar. Durch ihn floss auf vielfältige Weise die Kraft Gottes, durch ihn kam Gott selbst zu Gehör. Jesus war sozusagen „das Wort Gottes in Person“. Das drückte der Evangelist Johannes mit dem berühmten Diktum aus: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.“ (Joh 1,14) Das heilige, ewige und unveränderliche Wort Gottes war in dem Menschen Jesus gegenwärtig und erfahrbar. Dies muss für die Zeitgenossen Jesu, die dafür einen Sinn hatten, ungeheuer beeindruckend gewesen sein.
1.Jesus im jüdischen Kontext des 1. Jahrhunderts
Zur Zeit Jesu gab es verschiedene Gruppierungen und Bewegungen in Israel. Sie wetteiferten miteinander um das richtige Verständnis der Schrift und des Glaubens. Wir wissen, dass Jesus zweien davon besonders nahestand. Den einen schätzte er über alle Maßen, die anderen kritisierte er herzhaft. Die Rede ist von Johannes dem Täufer und den Pharisäern.
Nach dem Zeugnis aller vier Evangelien hat sich Jesus von Johannes taufen lassen. Damit begann seine öffentliche „Laufbahn“. Seine Beweggründe wissen wir nicht, aber die Symbolik spricht für sich: Durch die Taufe hat Jesus den Täufer als Lehrer und Propheten anerkannt und hat ihm Respekt gezollt. Jesus ordnete sich dem Täufer zu und schloss sich der Täuferbewegung an. Damit verankerte er sich selbst und die ihm Folgenden in der Täuferbewegung. Jesus wollte, dass sein Dienst im Licht des Täufers gesehen wird. Dies hat einen Grund. Aus Jesu Sicht gab es keinen Größeren als Johannes den Täufer (Lk 7,28). Das ist ein großes Wort. Die Einzigartigkeit des Täufers bestand darin, dass er eine landesweite Buß- und Erweckungsbewegung auslöste, durch die Israel zurück in den Bund mit Gott gebracht und auf das Kommen des Reiches Gottes vorbereitet werden sollte. Deshalb war Johannes der letzte und wichtigste Prophet. Nach ihm kam nur noch der Messias, der das Werk des Täufers aufgreifen sollte und eines Tages zur Vollendung führen wird. Jesus ließ sich von Johannes taufen und bestätigte damit diesen Bußprediger als großen Gottesmann. Diesen Akt der Demut bestätigte wiederum Gott, indem er im Rahmen der Taufe Jesus bestätigte: Gott öffnete die Himmel, ließ den Heiligen Geist auf Jesus fallen und bezeichnete ihn als „geliebten Sohn“ – ein jüdischer Ausdruck für den Messias (Mk 1,9-11). Das heißt: Die Salbung zum Messias Israels empfing Jesus im Rahmen seiner Taufe.
Neben dem Täufer stand Jesus den Pharisäern nahe. Doch hier war das Verhältnis zwiespältig. Während Jesus über den Täufer nur positive Worte fand, bekamen die Pharisäer ordentlich „ihr Fett ab“. Jesu Kritik an den Pharisäern wird oft als Abrechnung mit ihnen oder gar dem ganzen Judentum verstanden. Das aber ist ein Missverständnis. Im Gegenteil: Jesus hielt sich sogar zu den Pharisäern (wie Paulus auch), denn sie waren „die Frommen“ seiner Zeit, die es ernst meinten mit dem Wort Gottes und dem Leben mit Gott. Insofern ist Jesu Kritik nicht an andere gerichtet (an die „Opposition“), sondern sozusagen an die eigene Partei. Grundsätzlich schätzte Jesus die Ernsthaftigkeit der Pharisäer, aber manchmal war es mit ihnen auch zum Verzweifeln. Deshalb rang Jesus mit ihnen um das rechte Verständnis des jüdischen Glaubens. Jesus wäre nie auf den Gedanken gekommen, Israel oder das Judentum an sich zu hinterfragen. Im Gegenteil, er wusste sich gesandt „zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (Mt 15,24).
2.Jesus als Schrifttheologe, Lehrer und Exeget
Jesus kannte die jüdische Bibel gut. Gerne ließ er sich in Gespräche über das Wort Gottes verwickeln, so wie jeder Rabbi dies tat. Die Bergpredigt (Mt 5 – 7) ist ein gutes Beispiel, wie sich Jesus als Bibelausleger betätigt. Dabei kommt er auch auf die 10 Gebote zu sprechen, also den innersten Kern der Tora. Mehrfach beginnt Jesus seine Ausführungen mit dem Satz:
„Ich aber sage euch.“ Dieser bekannte Einleitungssatz wurde oft so verstanden, dass Jesus sich gegen die jüdische Tora stellte und stattdessen seine eigene „Jesus-Lehre“ aufrichtete. Doch das ist ein Missverständnis. Jesus war ein frommer Jude und hätte nie etwas gegen die Tora gesagt. Das betont er schon in der Einleitung zu seinen Ausführungen: „Ich bin nicht gekommen, die Tora aufzulösen, sondern zu erfüllen …“ (Mt 5,17-19). Erfüllen heißt tun bzw. verwirklichen. Jesus baut hier dem Missverständnis vor, er würde sich gegen die Tora aussprechen. Jesus wollte, dass die Tora getan wird. Das war und ist sein Ziel. Die Einleitungsformel ist vom hebräischen Hintergrund gar nicht so konträr gemeint, wie Christen das oft verstehen. Denn so haben die Rabbiner häufig ihre Redebeiträge eingeleitet. Zunächst wurde referiert, was die Schrift oder andere Rabbiner sagten, und dann gab man sein eigenes Votum ab. Somit könnte man die Einleitungsformel folgendermaßen paraphrasieren: „Die Tora sagt bzw. Rabbi xy sagt und dazu sage ich …“. Was nun kommt, ist also eine Auslegung oder eine aktuelle Anwendung der Tora, ein weiterführender Gedanke oder eine Ergänzung, eben ein eigener Diskussionsbeitrag. Und weil aus christlicher Sicht Jesus der Messias war (und ist), ist seine Auslegung von besonderem Rang.
Jesu Auslegung geschah im Sinne der Tora. Das gilt sogar für das bekannte „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (Mt 5,38-42). Zunächst ist zu sagen, dass dies nichts mit Rache oder Vergeltung zu tun hat. Es handelt sich um eine rechtliche Regelung, wie Schadenersatz zu leisten ist, nämlich nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Dies wurde schon im Alten Testament und später auch zur Zeit Jesu durch Ersatzzahlungen erreicht. Dass einer ein Auge verlor und daraufhin dem Täter seines ausgestochen hätte, war nicht der Fall – das ist Fantasie. Doch sorgten Richter dafür, dass gerechte Entschädigung vorgenommen wurde. Für ein Auge der Gegenwert eines Auges, für einen Zahn eben der Gegenwert eines Zahns. Dafür gab es sogar Listen mit konkreten Sätzen und Beträgen. Wie bei uns heute auch. Jesus hat nun das Anliegen, dass dieses Prinzip nicht in den privaten Bereich übernommen wird. In zwischenmenschlichen Konflikten soll es nicht zu einem „Wie du mir, so ich dir“ kommen. Denn dabei fühlt sich jeder vom anderen über den Tisch gezogen und am Ende eskaliert die Sache. Also: kein Ausgleich. Doch spricht Jesus auch nicht von einem simplen Ertragen von Ungerechtigkeiten und Machtmissbrauch. Worauf Jesus hier abhebt, ist die Möglichkeit, auf unerwartete und kreative Weise Unrecht offenzulegen. Nicht mit Gewalt oder simplen Retourkutschen. Dazu nennt er drei unterschiedliche Beispiele aus dem Alltag: Beleidigung (die Ohrfeige mit dem Handrücken; V. 39), das „letzte Hemd“ ausgezogen bekommen (weil man Schulden nicht zurückzahlen kann; V. 40) und von Römern zu Hilfsdiensten gezwungen werden (beispielsweise das Tragen von Reisegepäck; V. 41). (3) Diese Anweisungen sind Protestnoten, doch bestechen sie durch ihre unerwartete Andersartigkeit. Das Machtgefüge wird je aufgebrochen und die Mächtigen finden sich in Situationen wieder, die ihnen unangenehm sind. Eine Form des Protests, die weniger von Härte, als vielmehr von Intelligenz geleitet ist und auf Gewalt verzichtet.
Jesus hat seine Lehre aus der Tora, dem Judentum und konkreten Fragen seines Volkes heraus entwickelt. Wie es sich für den jüdischen Messias gehört.
Anmerkungen
1 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik. Band IV/1, Zollikon 1953, S. 181f.
2 Einen kurzweiligen Überblick bietet der Video-Clip: „Wer war Jesus Christus?“ (Katholisch für Anfänger, von katholisch.de, zu finden auf Youtube, Dauer 8 Min).
3 Wenn man bedenkt, dass die Menschen der damaligen Zeit meist nur zwei Kleidungsstücke trugen (Untergewand und Mantel) und der Mantel überlebenswichtig und somit unpfändbar war, ist das zweite Beispiel durchaus markant.
3. Jesu Wirken und Anspruch als „Messias “
In den Evangelien ist Jesus der Messias. Das hebräische „Maschiach“ heißt im Griechischen „Christus“ und übersetzt „der Gesalbte“. Diese Bezeichnung ist im Neuen Testament so zentral, dass sie sogar zum Namens-bestandteil geworden ist: Jesus Christus.
Dies ist kein simpler Name, sondern ein Glaubensbekenntnis: Jesus aus Nazareth ist der Messias. Dass Jesus der Messias war, stand ihm allerdings nicht auf die Stirn geschrieben. Manche sahen ihn so, andere nicht (Mk 8,27-30).
Mit dem Anspruch, der Messias zu sein, ist Jesus nicht hausieren gegangen, doch lag dies in der Luft. Jesu Handeln deutete darauf hin: Die Sammlung der 12 Jünger als Symbol für die 12 Stämme Israels, die Tempelreinigung, messianische Zeichen und Wunder, all das führte zu Anfragen von außen und zu Diskussionen im eigenen Jüngerkreis. Nicht ohne Grund ist Jesus als Messiasanwärter (als „König der Juden“) gekreuzigt worden.
Der Messias ist im Judentum so etwas wie eine universale Heilsfigur, in der die verschiedenen Heilserwartungen des Judentums zusammenkommen. Doch sind die Vorstellungen recht unterschiedlich. Grob kann man sagen: Der Messias ist der, der die Heilszeit einläuten und alles in Ordnung bringen wird. Was das konkret heißt, ist eine andere Frage. Deshalb gab es im Judentum recht verschiedene, nämlich königliche, priesterliche und prophetische Messiaskonzepte. Im königlichen Konzept sollte der Messias als Nachfahre Davids kommen, um Israel als Nation Gottes wieder zu alter Größe zu verhelfen. Im priesterlichen Konzept war der Messias der endgültige Versöhner zwischen Gott und Israel, durch den alle Schuld gesühnt werden wird, und im prophetischen Konzept stellte der Messias Israel wieder her, indem er ganz Israel zur Tora zurückführte.
Nicht umsonst wird Jesus als königlicher, priesterlicher und prophetischer Messias gesehen.
Manche meinten auch, dass ein Messias nicht genügt, und erwarteten zwei: einen königlichen und einen priesterlichen. Andere rechneten damit, dass der Weg des Messias ein Leidensweg sein könnte, wie dies bei den Propheten Israels oft der Fall war. Und wieder andere waren der Meinung, dass Gott keinen Messias braucht, sondern eigenhändig die Heilszeit einläuten wird. Was auf den ersten Blick diffus und widersprüchlich wirkt, hat einen gemeinsamen Nenner: Israel und die Welt liegen im Argen und es braucht Gottes Initiative, um diesen Missstand in Ordnung zu bringen. Genau dies ist die Aufgabe des Messias.
4. Jesu Kreuzestod und Auferweckung
Jesu Tod bedeutete das schmähliche und grausame Ende eines Messiasanwärters. Das messianische Hoffnungsprojekt war mit Jesus (wieder einmal) gestorben. Doch kurze Zeit später wendete sich das Blatt. Jesus war auferstanden – und das änderte alles. Dass Jesus wieder zum Leben erweckt worden war, konnte ja nur heißen, dass das Projekt Jesu weiterging und nicht am Kreuz endete. Gott hatte Jesus auferweckt, der Messias war am Leben! Aus dieser Perspektive musste man sagen, dass Jesus von Gott in eindrücklicher Weise bestätigt worden war – und er tatsächlich der Messias ist. Somit stand auch Jesu Kreuzestod in einem völlig neuen Licht da. Jesu Tod war offenbar kein Scheitern, sondern hatte eine andere Bedeutung. Aber welche nur? Diese Frage stellte sich für die ersten Gläubigen und sie hatten nur eine Möglichkeit, sie zu beantworten: Mit Hilfe der jüdischen Bibel. Hier fanden sie die entscheidenden Kategorien: Stellvertretung und Sühne – Jesus starb für uns. Sein Tod diente zur Erlösung Israels, ja aller Menschen, sein Kreuz wendete das Schicksal der Welt! Ähnliches galt auch für Jesu Auferweckung. Auch ihre Bedeutung musste erst einmal begriffen werden und auch hier blieben nur die Schrift und die jüdische Tradition als Schlüssel. Auch an dieser Stelle wurde schnell deutlich: Die Auferweckung Jesu erfolgte für uns. Jesus hat den Tod überwunden und ewiges Leben erworben. Er ist, wie Paulus es ausdrückt, der „Erstling aus den Toten“. Der Erstling steht in der jüdischen Bibel stellvertretend für das Ganze. Ist nun Jesus der „Erstling aus den Toten“, dann bedeutet das, dass mit ihm die endzeitliche Totenauferweckung ihren Anfang genommen hat. Wenn der Erste auferstanden ist, dann werden auch all diejenigen auferstehen, die zu ihm gehören und die er repräsentiert. Das wurde den ersten Gläubigen anhand der Schrift klar. Die Bahn ins ewige Leben war gebrochen! (1 Kor 15,20-22)
Dieses Denken findet sich beispielhaft und gebündelt in Jes 53. Am bekanntesten ist Vers 5: „Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Doch lohnt es sich, das ganze Kapitel zu studieren, um zu sehen, wie Gott seinen Knecht zum Heil für die Menschen einsetzt. Passion, Tod und Auferweckung Jesu werden hier beispielhaft vorweggenommen, so dass sich der Text wie ein erläuternder Kommentar zu Jesu Leidensweg liest. Nicht umsonst ist es in verschiedenen jüdisch-orthodoxen Kreisen verboten, diesen Text zu studieren. Denn er führt manchen orthodoxen Rabbi zu nah an Jesus heran.
Ohne die schriftgelehrte Arbeit der ersten Jesusgläubigen hätten wir nie erfahren, was es mit Tod und Auferweckung Jesu auf sich hat. Vielleicht hätten wir die Auferstehung Jesu als Wunder bestaunt, aber weiter wären wir nicht gekommen. Ohne das Licht des Judentums wären wir blind geblieben, denn die Schlüssel zum Verstehen hätten uns gefehlt. Der Zugang zur geistlichen Bedeutung von Kreuz und Auferweckung Jesu wäre verschlossen geblieben, das Evangelium wäre weder formuliert noch verkündigt worden. Das Judentum ist der Schlüssel zum Evangelium.
5. Jesu Hoheit
Jesu Auferweckung ist aber nicht nur als Sieg über den Tod zu verstehen. Sie ist verbunden mit Jesu Himmelfahrt, so dass die Jünger von Anfang an wussten: Jesus ist im Himmel bei Gott. Was aber macht er da? Auch hier konnte nur die jüdische Bibel weiterhelfen. Dort war beispielsweise zu lesen: „Der HERR sprach zu meinem Herrn: ‚Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde zum Schemel unter deine Füße lege.‘“ (Ps 110,1) Dieses Wort hatte sich in Jesus erfüllt. Jesus ist „zur Rechten Gottes“ eingesetzt und auf diese Weise mit hohen Ehren bedacht worden. Zur Rechten Gottes zu sitzen, das ist neben Gott die höchste Position, die es gibt. In dieser Position kann Jesus – sozusagen als „Rechte Hand Gottes“ – als König herrschen. So übt er die Herrschaft aus, die Gott innehat. Er kann sich aber auch Gott zuwenden und für die Menschen Fürbitte tun. Als Anwalt und Versöhner. Beides ist in dieser Position möglich und verbindet sich mit ihr. Durch seine Erhöhung wurde Jesus also zum „Mittler“ zwischen Gott und Menschen.
Er repräsentiert Gott vor den Menschen und umgekehrt auch die Menschen vor Gott. Das ist die zentrale Funktion, die Jesus hat. 1 Tim 2,5 bringt dies markant auf den Punkt: „Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus.“
In Apg 2 wird dieser Vorgang detailliert beschrieben: „So wisse nun das ganze Haus Israel gewiss, dass Gott diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt, zum Herrn und Christus gemacht hat.“ (V. 36) Die Auferweckung Jesu führte dazu, dass Gott Jesus „zum Herrn und Christus gemacht hat“, ihn also im Himmel in diese hohen Ämter eingesetzt hat. Wer nun wissen will, wer der Herr bzw. der Messias ist, bekommt eine klare Antwort: Jesus, der Gekreuzigte und Auferweckte. Folglich haben Christen „einen Gott, den Vater, von dem alle Dinge sind und wir zu ihm, und einen Herrn, Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn“ – einen Gott und einen Herrn (1 Kor 8,6). Jesu Auferweckung bedeutete seine Einsetzung im Himmel zur Rechten Gottes. Diese Einsetzung erfolgte durch Gott – das sagt die Schrift (Ps 110). Und aufgrund dieser Einsetzung wird Jesus eines Tages wiederkommen. Denn noch ist sein messianisches Werk nicht vollendet. (1)
6. Jesu Parusie (Wiederkehr)
Weil Jesus der Messias ist, wird er eines Tages (wieder-)kommen, Israel wiederherstellen und die Welt in Ordnung bringen. Das ist als Messias sein Job. Neben der Auferweckung ist die Parusie Jesu somit das zweite große Heilsdatum, das im Neuen Testament mit Jesus verbunden wird. Das geht auch gar nicht anders, denn wenn Jesus der Messias ist, dann muss er wiederkommen. Die gesamte frühjüdische Messiaserwartung funktioniert so, dass der Messias kommt. Dies ist auch nötig, denn noch ist sein Werk nicht abgeschlossen. Er kommt, von Gott gesandt, auf die Erde und vollendet die Gottesherrschaft. Darauf warten die Christen. Darauf warten aber auch die Juden – wir warten also gemeinsam. In Apg 1,6-12 wird diese Perspektive deutlich. Kurz vor seiner Himmelfahrt wird Jesus von den Jüngern gefragt: „Herr, wirst du in dieser Zeit wieder aufrichten das Reich für Israel?“ Für die Jünger war dies das Nächstliegende:
Jesus wird kommen, um das Reich aufzurichten – mit Israel im Zentrum. So hatten es die Propheten ja verheißen und das ist die Aufgabe des Messias. Jesus stimmte seinen Jüngern zu, dass dies eines Tages geschehen wird, doch machte er den Jüngern zweierlei klar: (1.) Es steht ihnen nicht zu, „Zeit und Stunde zu wissen“, denn der Zeitpunkt ist allein Gottes Sache. Es kann also schnell gehen oder länger dauern. (2.) In der Zwischenzeit haben die Jünger einen Auftrag zu erfüllen: Sie sollen das Evangelium bis an das Ende der Erde bringen. Jesus wird kommen und er wird das endzeitlich-messianische Friedensreich für Israel aufrichten, das ist keine Frage. Nur weiß niemand, wann das sein wird, und so soll die Zwischenzeit genutzt werden, um die Menschen mit dem Evangelium bekannt zu machen.
Ultra-orthodoxe Juden in Israel feiern die Einweihung einer neuen Tora-Rolle. Foto: Yaakov Naumi/Flash90
„Jeschua“
Der eigentliche Name unseres Herrn ist „Jeschua“, und weil er der Messias ist, wird er „Jeschua HaMaschiach“ genannt. Messias bedeutet „der Gesalbte“ und wird auf Griechisch mit „Christós“ wiedergegeben, während man Jeschua mit „Iesoús“ gräzisiert hat. Eingedeutscht wurde daraus „Jesus Christus“ und so reden die Christen ihren Herrn meist mit „Jesus“ oder „Herr Jesus“ an.
Wer den Namen verwenden möchte, der ihm tatsächlich gegeben wurde, muss auf „Jeschua“ umsteigen. Der Unterschied ist ungefähr so, wie wenn man einen deutschen Johannes mit dem englischen John ansprechen würde.
Gott hat Jesus zum Herrn und Christus gemacht. Als Herr herrscht Jesus bereits jetzt zur Rechten Gottes, als Messias wird er eines Tages gesandt werden, um die Herrschaft auf Erden durchzusetzen. Beides ist wesentlich und gehört zusammen.Jesus wird eines Tages wiederkommen und die Erde Schritt um Schritt von all seinen Feinden, von allen widergöttlichen Mächten und Kräften befreien. Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod. Dann ist Jesu Sieg vollkommen aufgerichtet (1 Kor 15,20-28). Jesus hat aber die Herrschaft nur inne, bis alle Feinde überwunden sind. Wenn dies erreicht ist, wird er die Herrschaft an den Vater zurückgeben, „auf dass Gott sei alles in allem“ (V. 28). Dann ist das Ziel der Geschichte erreicht: Die Erde wird wieder voll und ganz von Gott bestimmt sein und vollständig unter seiner Herrschaft stehen. Diese grandiosen Heilserwartungen sind jüdisch-messianischer Natur. Der Messias Jesus wird erfüllen, was in der heiligen Schrift der Juden verheißen ist. Die Schrift spannt den endzeitlichen Horizont auf, in dem sich Jesus bewegt.
7. Zurück zum Anfang: Wer ist Jesus?
Nachdem den Jüngern nach Ostern all dies vor Augen stand, stellte sich nochmals neu die Frage, wer Jesus überhaupt ist. Jesus war und ist voll und ganz Mensch, das war keine Frage. Aber doch kein normaler Mensch „wie du und ich“. Er war auch nicht nur Prophet, Weisheitslehrer oder Wundertäter – er war mehr. In ihm war in einzigartiger Weise der Gott Israels präsent. Das war offenkundig. Auf Erden war Jesus der herausragende Repräsentant Gottes gewesen und im Himmel bekleidet er nun die höchsten Ämter. Das war einzigartig und so musste auch von Jesus in einzigartiger Weise gesprochen werden.
Ein Hoheitstitel, der an dieser Stelle eine zentrale Rolle spielt, ist „Sohn Gottes“. Das hebräische Wort für „Sohn“ (ben) bezeichnet die Herkunft bzw. die Zugehörigkeit in recht allgemeiner Weise und so ist der Titel „Gottessohn“ auch nicht auf Jesus beschränkt. Die Einzigartigkeit Jesu wird allerdings dadurch zum Ausdruck gebracht, dass Jesus der Sohn ist (vgl. Hebr 1,2; Joh 5,19-27 u. ö.): der eine und einzigartige Sohn. Dieses Verständnis führt wieder zum Messias hin, denn der Sohn Gottes ist frühjüdisch kein anderer als der Messias. Durch ihn wird Gott sein ewiges Friedensreich aufrichten. Dies ist die Aufgabe des Messias, des Sohnes Gottes. Als Sohn wurde Jesus von Gott gesandt. Gesandt zu seinem jüdischen Volk und „unter die Tora“ getan (Gal 4,4). Dies war aus mehreren Gründen notwendig: (1.) Damit Jesus unter dem Schutz der Tora aufwachsen konnte, (2.) damit er die Tora aufrichten konnte, (3.) damit er die erreichen konnte, die unter der Tora sind (die Juden) und (4.) damit er der Messias in all seinen Funktionen sein konnte.
Jesus musste Jude sein. Daran hängt alles. Daran hängen seine Person und sein Werk, seine Worte und Taten, sein Kreuzestod und seine Auferweckung. Es ist von daher viel zu wenig, wenn man von Jesus abstrakt als vere Deus et vere homo („wahrer Gott und wahrer Mensch“) spricht, wie es auf den altkirchlichen Konzilien von griechisch-philosophisch denkenden Theologen definiert wurde. Von Jesus muss vor allem jüdisch gesprochen werden. Denn daran hängt die gesamte Bedeutung Jesu. Nur vom Judentum her ist Jesus zu begreifen.
Wir verstehen Jesus entweder jüdisch oder wir missverstehen ihn. Wenn wir durch die jüdische Brille schauen, sehen wir Jesus als Erlöser, Retter, Heiland und Herrn. Das weckt Glauben und führt zur Erlösung. Wenn wir durch irgendeine andere Brille schauen, dann sehen wir nur einen besonderen Menschen – und das Heil zerrinnt uns zwischen den Fingern.
Das Heil – unser Heil! – hängt an Jesu Judesein. An Jesus glauben kann man nur, wenn man ihn als Juden sieht. Das sagt auch Jesus selbst, wenn er betont:
„Das Heil kommt von den Juden.“ (Joh 4,22)
Anmerkung
1 Diese Ämter sind mit jüdischen Titeln verbunden, die „Hoheitstitel“ genannt werden. Einige wurden hier schon vorgestellt: Der Messias-König, der Herr, der Mittler und der Gottesknecht. Weitere finden sich unter www.bibelwissenschaft.de/bibelkunde/themenkapitelnt, im Kapitel „Christologische Hoheitstitel“. –
Quelle: Israel aktuell Ausgabe April/ Mai 2018
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