502. Nachdenkliches für Manager – Flug 402 7-89
Dienstag, 20. Oktober 2015 | Autor: intern
Lieber Blog Besucher,
die tiefsinnigen Gedanken von Karlheinz Binder haben mich viele Jahre erfreut und immer wieder zum Nachdenken angeregt. Genießen Sie diese Worte und nehmen Sie davon etwas in Ihrem Alltag mit.
Flug 402
Der Flughafen quoll förmlich über von Touristen. Sie standen gruppenweise in den Abfertigungshallen, in Schlangen vor den Schaltern, sie füllten die Warteräume und die Rolltreppen. Urlaubszeit.
Ich drängte in Eile zwischen ihnen hindurch, entschuldigte mich gehetzt bei einzelnen, die ich anrempelte, fühlte, wie in der überwärmten, stehenden Luft der Schweiß ausbrach, rannte gegen die Uhrzeit.
In genau 13 Minuten ging mein Flugzeug nach Wien. Ich musste es schaffen, denn es war eine wichtige Sitzung. Gerade dieses Mal wollte ich Entscheidendes zum anstehenden Problem beitragen. Ich war bestens vorbereitet für meinen Auftritt. Mit guten, griffigen und überzeugenden Formulierungen, aber jetzt schien das alles gefährdet. Ich war spät daran, sehr spät. Der erste, lange Stau auf der Autobahn bei Rastatt, der nächste am Frankfurter Kreuz. Dann die fast verzweifelte Suche nach einem freien Parkplatz. Schon als ich in das dunkle Maul der Tiefgarage hineinfuhr, leuchteten, so weit ich blicken konnte, die Einfahrtanzeigen zu den abzweigenden Parkboxen rot. Am Ende der langen Verteilerstrasse hinunter in die nächste Ebene: Das gleiche, alles belegt. Und dann, als ich schon fast resignieren wollte, das Flugzeug ohne mich starten sah, sprang einer der Lichtanzeiger direkt vor mir auf Grün. Da war ein Platz frei geworden, meine Chance. Und es klappte. Aber dann die vielen Urlauber die mich aufhielten und meine Eile zur Hektik machten.
Der Bodenbelag mit den runden Gumminoppen dämpfte meinen Laufschritt in seltsamer Weise, und als sich der lange Gang zur Halle B erweiterte, warf ich einen schnellen Blick auf die große Anzeigetafel: Flug 402, Wien, 9.40 Uhr, Exit B 16. Und dahinter, gelb und leuchtend: 50 Minuten Verspätung. Bis eben ging es noch förmlich um Sekunden, und jetzt hatte ich plötzlich über eine Dreiviertelstunde Zeit.
Was tut einer mit diesem Loch im Timing? Geht er in das nächste Restaurant innerhalb des Flughafens und trinkt erst mal einen? Solidarisiert er sich mit den anderen Wartenden, verschimpft das 50-Minuten-Guthaben mit Empörung über die Fluggesellschaft und die Verhältnisse im Luftverkehr? Oder sitzt er einfach herum und starrt stumpf in die Zeitung oder vor sich hin?
Ich checkte ein am Schalter B 16, suchte mir einen Platz im Warteraum, öffnete meinen Aktenkoffer, in dem ich, rationell und auf Effizienz geschult, immer Reservearbeit hatte, denn jeder Moment muss ja wohl sinnvoll genutzt werden. Aber als ich die Unterlagen in die Hand nahm, zögerte ich und legte sie nachdenklich wieder zurück. War diese Dreiviertelstunde nicht so etwas, wie mir unverhofft geschenkte Zeit? Sollte man sie dann auch so behandeln? Anders als die übrigen Stunden und Minuten? Wie etwas mir besonders Anvertrautes? Gab es nicht so viele persönliche Fragen, über die ich schon Iängst einmal nachsinnen wollte? Über die Art, wie ich lebte. Die Hektik in mir. Die nie zu Ende gedachten Prioritäten. Ob der Sinn und die Schwerpunkte meines Lebens nicht viel zu weit auseinander lagen?
Ich blickte auf die Urlauber, die hinter der Glasabtrennung draußen auf dem Gang vorbeiliefen. Sie alle hatten jetzt Zeit, manche von ihnen zwei oder drei Wochen. Was werden sie damit tun?
War nicht jede Unterbrechung der normalen Alltagsabläufe zugleich eine Chance, still zu werden? Über Gott und die Welt, nein: Über Gott und damit über die Welt hinaus nachzudenken? Vielleicht zu beten? Dreissig verbleibende Minuten lang bis zum verschobenen Start nach Wien?
Danke, Flug 402.
Karlheinz Binder